[Kurzgeschichte] Der rote Mantel

Es war ein wunderschöner, klarer Frühlingsmorgen. Die Strahlen der Sonne waren noch schwach und reichten kaum bis zur Erde, doch in der Luft lag der unverwechselbare Geruch von neuem Leben.

Sie stand regungslos am See und überblickte nachdenklich seine glatte Oberfläche. Ihr Blick streifte aufmerksam durch die Wälder, die die Ufer säumten und erst als sie ganz sicher war, alleine zu sein, beugte sie ihren Kopf über das Wasser und trank. Dabei wärmte die Sonne angenehm ihren schmalen Rücken und ließ den Mantel, den sie trug, in einem kräftigen Ziegelrot leuchten.

Das Wasser schmeckte süß und sie schloss für einen kurzen Moment zufrieden die Augen, als ein Schuss durch den Wald hallte. Die Kugel zerriss die Stille und schreckte einen Schwarm schwarzer Vögel auf, die panisch aus den Baumkronen in den Himmel schossen.
Ihr Kopf schnellte hoch und ihre haselnussbraunen Augen sahen beunruhigt von Baum zu Baum.

Und dann hörte sie es. Die friedliche Stille wich einem unheilvollen Donnern, das bedrohlich durch das Unterholz rollte. Das ohrenbetäubende Bellen vieler Hunde erklang und kam direkt auf sie zu.

Sie rannte los so schnell sie konnte und verschwand in den rettenden Schatten des Waldes. Nervös kauerte sie unter einem umgestürzten Baum und durch ihre Eingeweide fraß sich etwas, das sie noch nie zuvor gespürt hatte.

Angst.

Am Waldrand erschienen die Umrisse der ersten Hunde, dicht gefolgt von gigantischen Tieren, die sie hier noch nie gesehen hatte. Auf ihren Rücken ritten Menschen mit dunklem Metall in den Händen.

Hals über Kopf floh sie tiefer in den Wald hinein, doch die Hunde verfolgten unbarmherzig ihre Spur und als sie nach ihr schnappten, tropfte weißer Schaum von ihren Lefzen.

Nie hatte sie die Grenzen ihres Reviers überschritten, nie die Regeln des Waldes verletzt. Warum jagten sie sie? Sie verstand den Zorn ihrer Verfolger nicht, doch sie wusste, wenn sie stehen blieb, war das ihr sicheres Todesurteil.

Ihre Beine zitterten und ihre Füße begannen zu stolpern, während ihr Herz immer schmerzhafter gegen ihren Brustkorb hämmerte.

Plötzlich erschien wenige Meter vor ihr eine Schlucht, ein tiefer mit totem Laub bedeckter Graben, den sie nicht überwinden konnte. Sie blieb stehen und eilte den Rand entlang doch schon erschienen die ersten Hunde vor ihr. Sie rannte zurück, doch hier warteten die berittenen Ungetüme auf sie.

Sie saß in der Falle.

Wimmernd versuchte sie sich einen Weg zwischen die Hunde zu bahnen, doch ihre gierigen Mäuler voll spitzer Zähne versperrten ihr den Weg.

Hinter ihr näherte sich ein Mensch. Er grinste breit, als sie ihn warnend anknurrte. Er sagte etwas zu ihr und zeigte mit einem Stock aus Metall auf sie. Sie starrte in seine blassen Augen, doch sie verstand den Ausdruck, den sie darin fand, noch weniger, als die Worte, die seinen wulstigen Mund verließen.

Ein Knall dröhnte in ihren empfindlichen Ohren und dann wurde es dunkel.

Ihr Herz flimmerte einen kurzen Moment und sie roch den vertrauten Geruch feuchter Erde, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlug.

Sie hatte nie die Regeln des Waldes verletzt.

Doch wer war sie, den Lauf der Welt in Frage zu stellen? Sie war nur ein sterbendes Fuchsmädchen und das Letzte, was sie spürte, war die Sonne, die beruhigend über ihren roten Fellmantel streichelte.

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Normalerweise schreibe und lese ich Kurzgeschichten nicht so gern - sie sind mir einfach zu kurz ;) Doch die Idee kam sehr plötzlich und mit voller Wucht, so dass ich nicht anders konnte, als sie zu Papier zu bringen. Wie findet ihr sie?

Die englische Version findet ihr hier.